Bonn ist schön, Berlin ist anders
Internationale Parlaments - Praktika 1999/2000
Kaum zu glauben – ein halbes Jahr ist schon vorbei und unser Parlamentpraktikum verflog im Nu. Über das IPP – Programm, das der Deutsche Bundestag zusammen mit der Humboldt-Universität (früher mit der Bonner Universität) schon zehn Jahre durchführt, wußte ich seit Beginn meines Studiums an der Staatsuniversität Samara (Russland). Die fast jährliche Teilnahme von Absolventen unseres Lehrstuhls für Deutsche Sprache und Literatur, ihre positiven Eindrücke und ihre Erfolge nach dem Praktikum, erweckten bei mir den starken Wunsch, es ihnen gleichzutun. Hier weiß man, wen man hat Politisches Engagement, Hochschulabschluss und sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache waren die Hauptkriterien für die Teilnahme. Nach dem Ausfüllen der zahlreichen Fragebögen und dem Vorstellungsgespräch bei der deutschen Botschaft war der Weg zum Praktikum geebnet. Dieses Glück winkte insgesamt 75 jungen Leuten im Alter von 20 bis 30 Jahren aus 14 Ländern. Diplomierte Germanisten, Politologen, Juristen, Wirtschaftswissenschaftler und Journalisten mit ausgeprägtem Interesse für Politik, selbstbewußt, energisch, vielseitig, kamen am 1. September 1999 in die neue Hauptstadt Deutschlands. "Der Praktikumumzug" nach Berlin wurde für einige von uns zur kleinen Enttäuschung. Die meisten träumten von Bonn, vom gemütlichen Provinzstädtchen mit märchenhaften Häuschen, engen sauberen Straßen, wo das noble Publikum den Rhein entlang flaniert. Berlin war ganz anders. Die Hektik der Metropole wirkte in den ersten Tagen abstoßend. Die Schönheit der Stadt löste sich in den zahlreichen Baustellen auf. Dreckige Straßen, monotone Plattenbauten und ein niedrigeres Lebensniveau in Teilen von Ostberlin riefen bei Teilnehmern aus Ost- und Mitteleuropa, so ein Gefühl hervor, als ob wir bei uns und nicht in Deutschland wären. Auch unsere Kollegen aus den USA litten nicht an Heimweh: In Lichtenberg, wo wir untergebracht waren, war die Belegung des Wohnheims mit Farbigen so wie in New Yorker Stadtvierteln. Allmählich fanden wir uns doch mit der Stadt der Gegensätze ab. Berlin mit seinem reichen Amüsement-Angebot zog uns immer mehr an. Informativ und kreativ Das Programm selbst war so voll von Terminen und Veranstaltungen, dass wir kaum Zeit hatten – weder für Depressionen, noch zum richtigen Verarbeiten unserer Eindrücke. Im September haben wir eine Mammutreise durch Deutschland unternommen. In Bonn, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Kiel und auf Föhr machten wir uns mit der Arbeit der politischen Stiftungen vertraut. Seminare zu den aktuellen Themen wie EU- und NATO-Erweiterung, Bonn-Berlin - Frage, soziale Marktwirtschaft, nationale Minderheiten in Deutschland, Frauenemanzipation, etc. waren nicht nur informativ, sondern sie wurden auch mit kreativen Aufgaben ergänzt. Bei der Friedrich-Naumann-Stiftung drehten wir einen kleinen Film zum Thema "Ost – West", und die "Grünen" gaben uns auf der Insel Föhr die Möglichkeit, ein wenig in die Geheimnisse und Probleme der Meereswelt einzutauchen. Vom Döner Besorgen bis zum Pressebericht Schreiben. Nach der Theorie kam die Praxis: Die meisten wollten das Praktikum bei Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses oder des Ausschusses für Angelegenheiten der EU absolvieren. Jeder wollte mehr über die Politik Deutschlands gegenüber seinem Heimatland erfahren. Wichtiger war natürlich, gute und tolerante Menschen zu treffen, mit denen es angenehm sein würde, ein halbes Jahr zusammenzuarbeiten. Aus persönlichen Erfahrungen wußten wir schon, dass es für Ausländer nicht immer so einfach ist, sich ins deutsche Team zu integrieren. Hinter dem Lächeln spürst du oft eine bestimmte Distanz und Reserviertheit, was leider auch diesmal vorkam. Mehr jedoch spürten wir Aufmerksamkeit und Fürsorge um uns. Besonders großes Gewicht hatte das Vertrauen, das man uns geschenkt hat und das für uns als einer der Hauptaspekte der deutschen Demokratie gilt. Das Tätigkeitsspektrum im Abgeordnetenbüro war wirklich breit, wie es Organisatoren des Programms prophezeit hatten: "Vom Döner Besorgen bis Pressebericht Schreiben". Neben der Büroarbeit hatten wir das Privileg Arbeitsgruppen-, Ausschuß- und sogar Fraktionssitzungen zu besuchen. Auch Reisen in den Wahlkreis standen auf dem Programm, um das Alltagsleben des Abgeordneten aus näherer Perspektive zu betrachten. Dadurch dass unser Praktikums mit wichtigen historischen Ereignissen, wie der 102. Konferenz der Interparlamentarischen Union, 10 Jahre Mauerfall, Millenniums-Party-2000, der Spendenaffäre, zusammen fiel, ließ uns die Geschichte Deutschlands miterleben. Interkulturelle Pfannkuchen Nicht nur unsere politische Ausbildung war ein Hauptziel des Praktikums. Eine noch größere Rolle spielten direkte Kontakte zwischen uns Praktikanten, Vertreter verschiedener Staaten, Informationsaustausch nicht nur über Probleme in unseren Ländern. Wir haben einander etwas National-Spezifisches beigebracht. Immer deutlicher meldete sich während unserer internationalen Parties kulturelle Verwandtschaft, wenn wir aus gleichem Teig russische Bliny, bulgarische und tschechische Palatschinka, französische Crepes backten, was in unserer gemeinsamen Sprache "Pfannkuchen" heißt. Zur netten Überraschung wurde für uns der Wunsch unserer Kollegen aus mächtigen Ländern wie den USA und Frankreich, Russisch, Polnisch und sogar Lettisch zu lernen, was bestimmt als besonderer Erfolg unseres internationalen Dialoges gelten kann. Am 18 Februar geht für die Teilnehmer aus Ost- und Mitteleuropa das Praktikum zu Ende. Was nehmen wir mit nach Hause? Der Koffer wird gefüllt sein mit Büchern und Broschüren über die aktuellsten politischen Themen. Der Magen ist mit den Berliner Spezialitäten Curry Wurst, Döner und Kindl gefüllt. In Gedanken aber bleiben für immer Erinnerungen an eine schöne Zeit und nette Leute. Von Jewgenija Kusnezowa |